The Active Amputee Frühlings-Sonderausgabe - Elternschaft nach Amputation - Teil I

Ein Jahr nach ihrer Amputation denken Jasmin und ihr Mann darüber nach, Kinder zu bekommen (Bild mit freundlicher Genehmigung von Jasmin Lindenmaier).
Ein Jahr nach ihrer Amputation denken Jasmin und ihr Mann darüber nach, Kinder zu bekommen (Bild mit freundlicher Genehmigung von Jasmin Lindenmaier).

Kinderwunsch nach einer Amputation

Heute beginnen wir mit einem weiteren Special. Eine Artikelserie, die sich einem speziellen Thema, einer besonderen Herausforderung oder einer beeindruckenden Person widmet. Diese Woche geht es um das Thema "Elternschaft nach einer Amputation". Schon ohne eine Beeinträchtigung einer Gliedmaße, kann die Vorstellung, plötzlich für ein Kind verantwortlich zu sein, beängstigend sein. Unbändige Freude mischt sich oft mit Gefühlen der Angst und des völligen Überwältigtseins. Das gilt umso mehr, wenn mensch amputiert ist. Im Laufe dieser Woche hören wir daher von vier Amputierten, was sie über Elternschaft denken. Jasmin, eine junge Frau aus Deutschland mit einer Amputation oberhalb des Knies - und eine regelmäßige Autorin von The Active Amputee - eröffnet unsere Frühlingssonderausgabe - über Elternschaft mit Beeinträchtigung einer Gliedmaße.  

 

Ins Ungewisse

Das Thema Schwangerschaft birgt ein enormes persönliches, aber auch gesellschaftliches Druckpotenzial mit sich - auch ohne die Tatsache, dass ich eine junge Frau mit einer Oberschenkelamputation bin. Nach der Amputation meines rechten Oberschenkels vor mehr als einem Jahr fällt mir das noch mehr auf. 

 

Aber fangen wir mal von vorne an. Für meinen Mann und mich war schon lange klar, dass wir Kinder haben wollten. Bald nach unserer Hochzeit häuften sich die Fragen von Familie und Freund*innen; sie wollten wissen, wann wir Kinder bekommen würden. Ich weiß, für die meisten Menschen scheint das der nächste logische Schritt im Leben zu sein. Und lange Zeit war das für uns auch keine Frage: Ja, wir wollten bald Kinder haben.

 

Doch dann kam uns das Leben in die Quere. Meine Oberschenkelamputation vor mehr als einem Jahr hat unser Leben auf den Kopf gestellt (hier der Link zur ganzen Geschichte). Plötzlich mussten wir unseren Alltag umstrukturieren, komplett neu überdenken, gewohnte Abläufe ändern und unheimlich kreativ werden, um die täglichen Herausforderungen zu meistern. Plötzlich gab es so viel zu lernen, so viel zu bewältigen, dass der Gedanke, ein Kind zu bekommen, in den Hintergrund rückte.

 

Nicht nur unser Alltag änderte sich, sondern auch unsere Erwartungen und Wünsche für die Zukunft. Mit meiner Amputation und meiner neuen Prothese ergaben sich plötzlich neue Möglichkeiten. Dinge, von denen ich nur träumen konnte, Dinge, die ich schon fast aufgegeben hatte, waren plötzlich wieder möglich. In der Folge setzte ich mir neue Ziele, sowohl beruflich als auch privat.  

In meinem Kopf herrschte Chaos. Ich konnte mich kaum entscheiden, wo ich anfangen sollte. Ich wollte alles auf einmal, wollte die volle Erfahrung machen, wollte Neues ausprobieren. Der Gedanke, ein Kind zu bekommen, begann zu verblassen. Wir waren viel zu beschäftigt mit dieser neuen Welt, die sich uns plötzlich eröffnet hatte.  

 

 

Wenn das Neue zur Norm wird

Mehr als ein Jahr nach der Amputation wurde dieses neue und aufregende Leben mit all seinen Möglichkeiten langsam zur Routine. Wir erlebten unsere Abenteuer und unser Leben kehrte langsam zu einem langsameren Rhythmus zurück - und bald war diese kleine Stimme wieder da. "Wolltest du nicht ein Kind?“ Aber es war nicht nur meine innere Stimme, die erhört werden wollte. Diese Stimme wurde durch immer mehr Fragen von Familie und Freund*innen verstärkt. Sobald unsere neu gewonnene "Normalität" zurückkehrte - obwohl unsere Realität und unser Lebensverständnis nun ganz anders sind als zuvor -, stand die Frage nach Kindern wieder auf der Tagesordnung. "Aber seien wir doch mal ehrlich, Jasmin", sagte ich mir. "Passt ein Kind wirklich in dein neues Leben? Ein Leben zwischen Prothese, Abenteuerlust und neuen beruflichen Zielen?"

 

Und Freund*innen und Familie haben uns diese Entscheidung nicht leichter gemacht. Wir befanden uns zwischen ihrer Begeisterung und Euphorie und den ständigen Fragen, wann wir denn Kinder bekommen wollen - als ob es die einfachste Sache der Welt wäre, ein Kind großzuziehen, wenn mensch eine Prothese trägt - und ihren fast ängstlichen und erstaunten Blicken, ob wir trotz meiner Amputation und den damit verbundenen Einschränkungen in meinem Alltag wirklich bereit sind, Kinder zu bekommen. Wie würden wir mit den Herausforderungen umgehen? Wie würden wir all die Hürden überwinden?

 

 

Ungewissheiten und Ängste

Im Moment gibt es noch viel zu viele Fragen zu diesem Thema. Mit meiner Prothese stehe ich noch ganz am Anfang, auch nach einem Jahr. Es gibt noch so viel zu lernen und neue Dinge auszuprobieren. Ich weiß, dass nicht alles, was ich ausprobiere, so funktionieren wird, wie ich es mir wünsche. Manchmal werde ich scheitern. 

 

Gibt es wirklich schon Platz für ein Kind in unserem Leben, für einen kleinen Menschen, der unsere ungeteilte Aufmerksamkeit braucht? Ich bin mir sicher, dass er da wäre, schließlich wächst man mit seinen Herausforderungen und wir haben eine großartige Familie, die bereit ist, uns auf Schritt und Tritt zu helfen. Aber die Frage ist, ob wir bereit sind und ob jetzt der richtige Zeitpunkt für uns ist.

 

Ich habe noch andere Sorgen im Hinterkopf. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich nach meiner Krankheit und der Chemotherapie, die ich durchgemacht habe, Kinder bekommen kann. Immerhin gibt es viele Frauen, die selbst nach einer schweren Krankheit und der Diagnose Unfruchtbarkeit schwanger werden, ein Kind bekommen und sich um ihr kleines Baby kümmern. Ich ertappe mich oft dabei, dass ich über mögliche Hindernisse nachdenke, obwohl ich weiß, dass es gar keine Hindernisse zu sein brauchen. Aber diese Gedanken sind präsent, unabhängig davon, wie schön es sein kann, ein Kind zu bekommen und einen kleinen Menschen großziehen zu können.

 

An den meisten Tagen fühle ich mich mit meiner Prothese sehr wohl. Ich ziehe sie morgens an und abends aus, wenn ich ins Bett gehe. Der Tag verläuft reibungslos. Trotz der erhöhten Anstrengung, die ich aufbringen muss, um durch den Tag zu kommen, kann ich meinen Alltag ohne Sorgen bewältigen. Aber dann gibt es auch andere Tage, manchmal sogar Wochen, an denen es - im wahrsten Sinne des Wortes - nicht gut läuft. Wenn der Sitz des Schaftes alles andere als ideal ist, wenn das Volumen des Stumpfes schwankt oder der Phantomschmerz mich umhaut. Es sind nur ein paar Tage, aber es gibt sie. Und ich frage mich, wie ich damit umgehen werde, wenn wir ein Kind haben, wenn ich nicht mehr aufstehen kann, wenn mein Gang unsicher ist?

 

Endlich, nach all der Aufregung der letzten Jahre, sind wir in einer Art Alltagsroutine angekommen, die uns die Möglichkeit gibt, uns zu entspannen und neue Kraft zu schöpfen. Ein Baby würde einen ganz neuen Alltag bedeuten. Wir müssten uns wieder auf eine neue Veränderung einlassen und uns an eine neue Situation anpassen. "Wie stehe ich nachts mit dem Baby im Arm auf, ohne meine Prothese anziehen zu müssen, und kann das Baby trotzdem sicher tragen?" "Wie kann ich mithalten, wenn mein Kind anfängt zu rennen und gefährlich nahe an ein fahrendes Auto gerät?"

 

Einen gut sitzenden Schaft zu haben, der ein bequemes und weniger anstrengendes Gehen ermöglicht, ist sowohl wichtig als auch keine leichte Aufgabe. Im Moment sind wir noch nicht so weit. Immer wieder sind Anpassungen nötig. Wir ändern Dinge und probieren aus, was am besten funktioniert. Mit einer Schwangerschaft würden wir wieder am Anfang stehen. Wassereinlagerungen oder Gewichtszunahme können dazu führen, dass ich allmählich aus dem Schaft herauswachse und regelmäßig einen neuen brauche. Nach all den Mühen des letzten Jahres, den stundenlangen Gesprächen mit meinem Orthopädietechniker und den zahllosen Versuchen, die perfekte Passform zu finden, ist es kein verlockender Gedanke, noch einmal von vorne anzufangen.

 

Glücklicherweise sind Phantomschmerzen für mich kein großes Thema. Die Angst, dass sich das während der Schwangerschaft oder bei den Wehen ändern könnte, ist da. Im Alltag kann ich relativ gut mit Phantomschmerzen umgehen. Entspannung und Konzentration machen die Schmerzen erträglicher. Ich frage mich aber, ob/wie sich das während der Schwangerschaft und später bei der Geburt ändern wird. Aber vielleicht habe ich dann genug andere Dinge im Kopf, so dass ich keine Zeit mehr für Phantomschmerzen finde.

 

Und dann ist da noch die Sache mit dem Job. Ich frage mich, ob ich während der Schwangerschaft wie gewohnt zur Arbeit gehen kann. Das erste Mal, als ich mit meiner Prothese wieder arbeiten ging, war eine große Umstellung für mich. Ich musste lernen, mit meinen Kräften umzugehen, auf meinen Körper zu hören und bei Bedarf Pausen einzulegen.  Wie auch in meinem Alltag musste ich kreativ werden und bestimmte Aufgaben anders lösen, als ich es gewohnt war. Viele Dinge kosten mich auch nach einem Jahr noch viel mehr Energie, mehr Anstrengung. Werde ich es schaffen, mit der zusätzlichen Belastung meines Körpers, die eine Schwangerschaft mit sich bringt, fertig zu werden?

 

 

Den Sprung wagen

Aber es gibt auch die andere Seite. Die rosarote Welt, die mensch sich als Paar vorstellt, wenn es darum geht, ein gemeinsames Kind zu bekommen. Leuchtende Kinderaugen, die das Lächeln nur noch größer erscheinen lassen, die ersten Schritte, die ersten Worte, die gemeinsame Zeit als Familie. Die schönen Momente, die all die zusätzlichen Anstrengungen wert sind. Die Momente, die einen schnell alle Sorgen und Schwierigkeiten vergessen lassen. 

 

 

Gastbeitrag von Jasmin Lindenmaier. Jasmin, eine Oberschenkelamputierte, schreibt regelmäßig für The Active Amputee. 2016 entschied sie sich für eine Amputation, um ein glücklicheres Leben frei von Ängsten und Sorgen zu führen, ein Kapitel in ihrem Leben abzuschließen und einen neuen Weg einzuschlagen, die Welt zu erkunden und neue Abenteuer zu erleben. Du kannst ihr auf Instagram unter @prostheticlife folgen.

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