Der Alltag von Oberschenkelamputierten: Jasmin und Andreas berichten

Andreas ist gern und viel unterwegs. Daher hat er klare Vorstellungen, was eine Prothese leisten können muss (picture courtesy of Andreas Gröbner)
Andreas ist gern und viel unterwegs. Daher hat er klare Vorstellungen, was eine Prothese leisten können muss (picture courtesy of Andreas Gröbner)

In Den Startlöchern, Um Das Neue Ottobock Genium X3 Zu Testen

Diese Woche habe ich das Vergnügen, mit Jasmin und Andreas aus Deutschland zu reden. Beide sind oberschenkelamputiert. Beide sind dies noch garnicht so lange. Beide haben vor ihrer Amputation eine lange Kranken-Odyssee hinter sich. Und beide testen zur Zeit das überarbeitete Genium X3 von Ottobock. 

 

Heute möchte ich euch die beiden kurz vorstellen. Und morgen hören wir dann mehr über ihre Erfahrungen mit dem Kniegelenk.

 

 

Darf Ich Vorstellen: Jasmin Und Andreas

Hallo Jasmin, hallo Andreas. Schön, dass ihr beide euch die Zeit für dieses Interview genommen habt. Bevor wir richtig loslegen, könnt ihr beide uns kurz ein wenig was über euch erzählen? Besonders interessiert sind wir natürlich daran, wann und wie ihr jeweils euer Bein verloren habt und wie ihr euer Leben mit Oberschenkelamputation seit dem so gemeistert habt.

 

Jasmin, 27

Mein Name ist Jasmin und ich bin 27 Jahre alt.

 

Nach einer Tumorerkrankung mit 15 Jahren, vielen Operationen, Einschränkungen und Schmerzen, habe ich mich ich vor einem Jahr ganz bewusst für die Oberschenkelamputation meines rechten Beines entschieden (Jasmins Geschichte „Amputation als Schritt in ein glückliches Leben" ist im Mai diesen Jahres auf The Active Amputee erschienen ist).

 

Die Amputation war für mich eine sehr erleichternde Entscheidung, die mir plötzlich wieder alle Türen für ein aktives Leben geöffnet hat, von dem ich vorher nur Träumen konnte. Ich war schon immer ein sehr lebensfroher, aktiver und naturliebender Mensch.

 

Mit den Möglichkeiten, die eine Prothese mir heutzutage bieten kann, kann ich dieses Potenzial wieder voll ausschöpfen, mich frei bewegen und all die Abenteuer erleben, die sich sonst nur in meinen Gedanken abspielen konnten. Ob das Erklimmen eines Berges oder das Reiten auf einer Welle, die Möglichkeiten sind plötzlich unendlich für mich und das genieße ich sehr. 

 

Unter @prostheticlife könnt ihr mehr über Jasmin erfahren.

 

 

Andreas, 38

Hallo, ich bin Andy, ich bin 39 Jahre alt, verheiratet und habe eine Kleine Tochter (8 Jahre).

 

Ich hatte mit 19 Jahren Knochenkrebs „Chondrosarkom“ oberhalb des Kniegelenks. Nach einer Bestrahlung und mehreren Chemotherapien, konnte ich den Krebs allerdings bezwingen. Infolge der Behandlung, vor allem der Bestrahlung, hatte ich dann aber Probleme mit allem, was Unterhalb des rechten Knies war. Ich konnte das Bein kaum beugen. Es hat sich im laufe des Tages immer mit Lymphe gefüllt. Ich hatte permanent Schmerzen und letztendlich dann immer wieder Blutvergiftungen, die sich im rechten Unterschenkel festgesetzt haben.

 

Im Februar 2015 wurde dann zum ersten mal mein Unterschenkel nicht mehr mit Blut versorgt. Die Gefäße waren so „verbrannt“. Nach mehreren Bypass-Operationen, Spalthauttransplantationen die erfolglos waren, wurde mir dann im Mai, nachdem das Bein wieder nicht mit Blut versorgt wurde, dieses knapp oberhalb des Knies amputiert.

 

Ich habe im Krankenhaus dann direkt den Entschluss gefasst, mein Leben so aktiv wie möglich zu gestalten. Ich wollte wieder auf dem Jakobsweg pilgern, ich wollte wieder meine tägliche Joggingrunde laufen, ich wollte aktiv am Leben meiner Familie teilnehmen. Recht schnell habe ich dann in der Reha mit dem Laufen begonnen und die Distanz auch schnell steigern können. Im Juli 2017 bin ich dann meinen ersten Jakobsweg (Caminho Portugues) mit Prothese gelaufen und konnte diesen auch erfolgreich beenden. 2018 im Mai bin ich dann nochmal in Portugal von Porto bis ins Spanische Vigo an der Atlantikküste entlang gepilgert. Außerdem bin ich fast täglich im Fitnessstudio und gehe viel Nordic Walken. Seit kurzem habe ich nun auch eine Lauffeder und bin dabei, auch hier stärker zu werden.

 

Meinen Alltag als berufstätgiger Familienvater bewältige ich eigentlich ohne jegliche Einschränkungen. Natürlich muss ich hier auch einen Dank an meine Familie und meinen Arbeitgeber aussprechen, die mir hier und da auch mal was durchgehen lassen. Ich bin nun seit etwas mehr als zwei Jahren amputiert und stehe noch ganz am Anfang. Bin wahnsinnig gespannt, was das Leben mit mir noch so vor hat. Ich will es auf jeden Fall in vollen Zügen genießen.

 

Unter @bionic.pilgrim könnt ihr mehr über Andreas erfahren.

 

 

Obwohl ihr noch garnicht so lange amputiert seid, weiß ich, dass ihr beiden ein sehr aktives Leben führt. Wie war bis jetzt eure Prothesenversorgung? Was lief gut? Was war ernüchternd?

 

Andy

Ich hatte bisher für mein Gefühl sehr viel Glück mit der Versorgung. Wir haben verschiedene System probiert, bis wir dann zur aktuellen „endgültigen“ Versorgung gekommen sind. Vom Liner mit Pin, über Liner mit Vakuumlippen zum Vollkontakt-Vakuum MilwaukeeSchaft mit BoaSystem. Ich durfte auch verschiedene Kniegelenke in dieser Zeit testen, um dann zu einer Entscheidung zu kommen, was am besten zu mir passt. Natürlich verbringt man viel Zeit bei seinem Techniker. Mal ist der Schaft zu groß, dann wieder zu eng. Mal bricht hier ein Teil, mal braucht man einfach eine zweite Meinung. Im Großen und Ganzen bin ich aber sehr zufrieden wie es bisher gelaufen ist.

 

Ich erinnere mich aber noch, als ich zum ersten mal auf meiner Prothese stand. Ich hatte Videos auf Youtube gesehen, wie man rennt, springt, Fußball spielt usw. und dann steht man plötzlich zum ersten mal selbst auf der Prothese drauf. Da wurde mir klar, dass das ganze kein Zuckerschlecken wird und mir viel Schweiß, Blut und mentale Stärke abverlangen wird. So ist es auch gekommen. Und diese Reise ist noch lange nicht zu Ende.

 

 

Jasmin, wie sah es da bis jetzt bei dir aus?

 

Jasmin

Das erste halbe Jahr nach meiner Amputation konnte ich leider nicht versorgt werden. Durch die vielen Operationen war mein Körper sehr geschwächt und die OP-Wunde verheilte nur sehr langsam. Im Februar 2018 war es dann endlich so weit und meine erste Prothese wurde angepasst. Das war für mich alles sehr aufregend. Die ersten Schritte liefen richtig gut und waren ein unglaubliches Gefühl.

 

Mein erster Schaft war ein Knieex-Schaft. Damit konnte ich den Stumpf in der Prothese voll belasten. Die Zeit, in der ich mit Hilfsmitteln (Unterarmgehstützen oder Gehstock) unterwegs war, war das auch kein Problem. Das Laufen hat zwar am Anfang extrem viel Kraft gekostet, aber das gehört ja leider auch dazu. Als ich anfing, ohne Hilfsmittel zu laufen, haben ich und mein Techniker allerdings beschlossen, doch einen Oberschenkelschaft zu bauen. Das war im Nachhinein auch die beste Entscheidung, die wir viel früher hätten treffen sollen.

 

Ohne Hilfsmittel fiel es mir nämlich sehr schwer, die Prothese in Position zu halten. Das kann man sich so vorstellen, dass ich permanent meinen gesamten Körper, fast schon krampfhaft, angespannt habe, um gerade gehen zu können. Habe ich das nicht gemacht, bin ich mit dem Oberkörper bei jedem Schritt nach rechts gekippt, weil mir die Führung im Schaft gefehlt hat. Mit dem Oberschenkelschaft komme ich jetzt sehr gut zurecht und mein Gangbild hat sich extrem verbessert. Das Laufen ist plötzlich viel weniger anstrengend für mich. 

 

Was ich allerdings lernen musste war, dass ein gut sitzender Schaft sehr sehr wichtig ist. Denn wenn es dort nicht richtig passt, läuft es sich alles andere als gut. Das kann wirklich sehr frustrierend sein. Es gibt immer wieder Phasen, in denen das Volumen meines Stumpfes weniger wird. Mal hängt das mit dem Wetter zusammen oder an der Strecke, die ich an diesem Tag zurückgelegt habe. Kleinere Schwankungen kann ich ganz gut mit Strümpfen ausgleichen, die ich über den Stumpf ziehe, um ihn dicker zu machen. Doch wenn das Volumen immer weiter abnimmt bringt das irgendwann leider auch nichts mehr.

 

Ich verbringe also sehr viel Zeit bei meinem Techniker, der mir den Schaft dann enger macht oder einen neuen anfertigt. Und das kann wirklich nervenaufreibend sein. Mein Glück ist es, dass ich einen tollen Techniker habe, der sich immer etwas einfallen lässt, um die Prothese angenehmer für mich zu machen und nicht müde wird, immer wieder etwas am Schaft zu verändern. Auch die geeignete Statik für den Aufbau der Prothese zu finden, hat sich schon das ein oder andere Mal als gar nicht so einfach erwiesen.

 

Ich durfte jetzt schon unterschiedliche Gelenke testen und jedes hat einen anderen Aufbau. Um das optimale Laufgefühl zu bekommen, sind es manchmal nur Millimeter, die eine kleine Schraube verstellt werden muss. Die ändert dann aber auch wieder die Stellung einer anderen Schraube. Es ist wirklich Kleinarbeit. Ist die optimale Einstellung gefunden, geht es ans Testlaufen im Alltag. Und da kam es schon sehr oft vor, dass sich doch etwas nicht so gut lief, wie es sollte und es ging von vorne los, die Schrauben zu drehen.

 

Ich könnte hier jetzt ewig lange von dem Weg zu einer guten Prothesenversorgung erzählen. Aber ich glaube es trifft es ganz gut zu sagen, dass es ein langer Prozess ist, der viele Höhen und Tiefen mit sich bringt und bei der viel Geduld und ein toller Techniker nötig ist, der bereit ist die Prothese immer wieder zu optimieren und der einem bei der Beantragung bei der Krankenkasse unterstützt.

 

 

Was sind denn so eure Träume für die Zukunft? Und was heißt das hinsichtlich der Ansprüche an eine optimale Prothese? Was ist euch diesbezüglich bei der Prothesenversorgung wichtig?

 

Jasmin

Meine Träume für die Zukunft sind erst einmal ganz alltägliche Dinge. Ich möchte ein Leben führen, in dem ich selbstbestimmt bin und ich alleine entscheide, was ich kann und was nicht. Mit der Amputation wollte ich wieder aktiv sein können, Sport treiben, unbeschwert Leben können. Ich möchte mit meiner Prothese in der Lage sein ein „ganz normales“ Leben zu führen und Dinge tun zu können, die für die meisten Menschen ganz selbstverständlich sind.

 

Ich möchte mich frei bewegen und rückwärts gehen, ohne über den nächsten Schritt nachdenken zu müssen; ich möchte losrennen können, wenn es nötig ist; Treppen bewältigen, ohne eine Krise zu bekommen; ich möchte durch den Wald laufen, ohne Angst vor dem stolpern zu haben und mit den Füßen durchs Wasser laufen, wenn ich am Strand bin.

 

Für meinen Mann und mich war auch nach der Amputation klar, dass wir Kinder haben möchten. Dafür möchte ich mich so unbeschwert wie nur möglich bewegen können, um den Alltag mit Kindern meistern und ausgelassen mit ihnen toben zu können.

 

Meine Ansprüche an eine Prothese sind also, dass sie mir vor allem viel Sicherheit bietet. Dafür muss sie schnell auf meine Bewegungen und mein Schritttempo reagieren können und mich im richtigen Moment unterstützen. Nur wenn ich mich sicher fühle, kann ich ohne darüber nachzudenken durch den Alltag gehen, egal ob berghoch, bergrunter oder über unebene Wege. Denn seien wir mal ganz ehrlich. So gerade Wege, wie in der Gehschule oder im Fitnessstudio findet man draußen, in der echten Welt, nicht so häufig. Dafür ist es wichtig für mich, dass sich das Gangbild so natürlich wie möglich anfühlt.

 

Das ist mir deshalb so wichtig, weil ich durch meine Vorerkrankung oft Rücken- oder Knieprobleme in meinem anderen Bein hatte, auch durch die häufige Fehlbelastungen. Die Prothese wird mich jetzt noch mein ganzes Leben tragen und sollte deshalb mein noch vorhandenes Bein und meinen Rücken genug entlasten und unterstützen, um das fehlende Bein so gut es möglich ist auszugleichen.

 

Neben den alltäglichen Träumen habe ich natürlich auch Größere. Einer meiner größten Träume ist das Windsurfen und Wellenreiten. Vor meiner Erkrankung war mein größter Wunsch, einen Surfschein zu machen. Durch die vielen Operationen war es leider nicht mehr möglich für mich. Jetzt rückt dieser Traum mit der Möglichkeit einer Versorgung mit einer wasserfesten, elektronischen Prothese wieder in greifbare Nähe und ich hoffe sehr, bald wieder auf dem Brett stehen zu können.

 

Mein anderer großer Traum ist es, die Welt zu bereisen und so viele neue Orte wie möglich zu entdecken, durch den Grand Canyon zu wandern, die Fjorde in Norwegen mit dem Kanu zu befahren, die schönsten Berge zu erklimmen und die größten Städte zu erkunden. 

 

 

Wow, Jasmin, da hast du dir ja noch viel vorgenommen. Was das Surfen angeht, setz dich doch mal mit Dani Burt in Verbindung. Dani hat enorm viel Erfahrung in dem Bereich, auch was die Anforderungen an die Prothese angeht. Und wenn mich nicht alles täuscht, dann läuft sie auch ein Genium X3.

 

Andy, wie sieht es denn bei dir mit Träumen für die Zukunft aus?

 

Andy 

Träume für die Zukunft. Da gibt es natürlich einige - auch wenn ich in der letzten Zeit etwas davon weg gekommen bin. Ist ja doch immer recht viel zu planen. Und meist kommt es dann doch ganz anders. Ich würde mich gerne im Parasport probieren. Aktuell trainiere ich Kugelstoßen und will da so viel erreichen wie möglich.

 

Außerdem ist der Jakobsweg immer in meinem Hinterkopf. Aber auch einfach weiterhin aktiv mit der Familie und Freunden zu sein ist ein großes, wahrscheinlich das größte Ziel. Wir sind viel Unterwegs, reisen gerne und viel. Meine Tochter ist im Leichtathletikverein. Da möchte ich auch immer dabei sein und mit rennen.

 

Ein aktives, ereignisreiches Leben zu führen, das ist mein größter Traum. Meine Prothese muss also sehr breit aufgestellt sein und vor allem auch spontan mit jeder Situation klar kommen. Wer springt nicht gerne nach ner Radtour direkt in den Pool. Früher habe ich mir über so etwas keine Gedanken gemacht und möchte dies auch weiter nicht tun.

 

 

Morgen: Das Volle Interview Zum Genium X3 Alltagstest

Soweit erst einmal für heute. Morgen dann das komplette Interview. Was haben die beiden mit dem Genium X3 unternommen? Wie hat sich das Kniegelenk geschlagen?Wie kamen Jasmin und Andreas mit dem Gelenk zurecht? All das - und einiges mehr - dann morgen hier auf The Active Amputee.

 

 

Post by Bjoern Eser, the creator of The Active Amputee.

 

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