Heute im Fokus: Sportprothesen

Tim vom Hagen stellt einem Teilnehmer bei den Talent Days beim TSV Bayer Leverkusen die Sportprothese neu ein (Bild mit freundlicher Genehmigung von Stefan Schu).
Tim vom Hagen stellt einem Teilnehmer bei den Talent Days beim TSV Bayer Leverkusen die Sportprothese neu ein (Bild mit freundlicher Genehmigung von Stefan Schu).

Sport Mit Prothese: Interview Mit Tim Vom Hagen

Spätestens mit den Paralympischen Spielen 2012 in London rückte der Behindertensport vom Rande der Berichterstattung ins Rampenlicht. Und damit wurden binnen kurzer Zeit auch die besonderen Sportprothesen, die die Weltklasseleistungen der Athlet*innen ermöglichen, zum Gesprächsthema. Damals war der südafrikanische Sprinter Oscar Pistorius - auch bekannt als The Blade Runner - einer der Stars der Spiele. Pistorius und viele andere Sportler*innen waren plötzlich auch jenseits des oft recht engen Kreises des Para-Sports bekannt. Seit dem hat sich viel getan und das Thema Sportprothese erfreut sich einer immer größeren Beliebtheit. Daher freu ich mich heute auf ein Interview mit Tim vom Hagen. Tim ist CPO - sprich Certified Prosthetist/Orthotist - mit langjähriger Erfahrung im Prothesenbau und Filialleiter bei LENTES PROTHESENWERKSTATT in Leverkusen. Das Interview entstand im Rahmen der aktuellen Kooperation mit LENTES PROTHESENWERKSTATT.

 

Der Traum Vom Sport Nach Einer Amputation

Viele Leute, die von Amputationen betroffen sind, möchten gerne sportlich aktiv sein. Dabei kommt das Gespräch schnell auf das Thema Sportprothesen, auf was Amputierte dabei achten müssen, und wo er oder sie diese speziellen Prothesen am besten anfertigen lässt. Da in Deutschland die Kosten für eine gesonderte Sportprothese in den meisten Fällen leider nicht durch die Kasse übernommen wird, kommen bis jetzt erst relativ wenige Menschen in den Genuss, eine solche Prothese regelmäßig nutzen zu können. Das entsprechende Wissen rund um das Thema Sportprothese ist unter Amputierten dementsprechend gering. Damit das nicht so bleibt, habe ich mit Tim von LENTES PROTHESENWERKSTATT in Leverkusen gesprochen. Er wird uns helfen, hier ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen. 

 

"Herzlich Willkommen, Tim! Dank dir, dass du uns heute Rede und Antwort stehen wirst rund ums Thema Sportprothese."

 

 

Von Was Reden Wir Eigentlich, Wenn Wir Von Sportprothesen Reden?

Björn: Fangen wir doch einmal bei den Grundlagen an. Bei Sportprothesen denken Viele ganz gezielt an ‚Running Blades'. Aber das ist doch bestimmt nur ein ganz kleiner Bereich von dem, was ihr unter Sportprothesen versteht. Welche anderen Arten gibt es?

 

Tim: Ja, das stimmt. Du hast recht. In der breiten Öffentlichkeit am bekanntesten sind die sogenannten ‚Running Blades‘ mit ihren auffälligen Carbonfedern, die zum Laufen, Sprinten oder Springen hergestellt werden. Hier fallen einem Namen wie Heinrich Popow oder Leon Schäfer ein. Beide sind weltbekannte Sportler, die grosse Bekanntheit erreicht haben.

 

Wir freuen uns natürlich, dass nicht zuletzt durch die weitläufige Übertragung der Paralympics erfreulicherweise immer mehr Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen in das Rampenlicht treten und somit positiv und für ihre enormen sportlichen Leistungen wahrgenommen werden.

 

Neben dem prominenten Beispiel der ‚Running Blades‘ gibt es aber eine Vielzahl anderer Sportprothesen für ganz andere Disziplinen; wie etwa Fahrradprothesen für Bein- oder Armamputierte, spezielle Schwimmprothesen, oder spezielle Armprothesen für das Hanteltraining.

 

Wie eine Sportprothese am Ende aussieht, hängt natürlich von der Amputationsart einerseits und andererseits von der Sportart ab, die man betreiben möchte. Den Möglichkeiten sind nahezu keine Grenzen gesetzt!

 

 

 

Enorme Entwicklungen In Den Letzten Jahren

Björn: Welche dieser Hilfsmittel werden am meisten nachgefragt? Und was hat sich da in den letzten Jahren geändert?

 

Tim: Am meisten werden Sportprothesen mit Lauffedern nachgefragt. Das liegt unter anderem auch daran, dass es mehr Bein-, als Armamputierte gibt.

 

Lauffedern aus Carbon werden immer wieder optimiert, Kniegelenke bleiben mechanisch gesteuert, manche mit integrierten Hydrauliken.

 

Neben den Passteilen ändert sich im Laufe der Jahre auch der technische Aufbau, auch durch stetige neue Erfahrungswerte und immer bessere Analysen.

 

 

Wir Machen Fast Alles Möglich

Björn: Und wie sieht es mit ganz speziellen Wünschen für sehr ausgefallene sportliche Aktivitäten aus? Sagen wir mal ‚Flossenfüße‘ für Taucher*innen oder spezielle Beinstellungen fürs Reiten und der gleichen? Bekommt ihr auch solche anfragen? Wenn ja, was waren die spannendsten Herausforderungen bis jetzt?

 

Tim: Wir hatten schon ein paar aussergewöhnliche Versorgungen wie etwa den Bau einer Prothese für einen einseitig sehr hoch beinamputierten Kunden, der gerne Wellenreiten ausprobieren wollte. Durch die Kürze des Stumpfes wurde eigentlich eine Art Beinverlängerung benötigt, so dass der Kunde dann mit der Prothese auf dem Board knien und balancieren konnte. Wie gesagt, mit etwas Kreativität sind uns ist keine Grenzen gesetzt.

 

Auch eine doppelseitige Oberschenkelversorgung mit Schwimmflossen, die dann zum Tauchen und Schwimmen genutzt wird, haben wir schon gebaut.

 

Ebenso versorgen wir Armamputierte immer wieder mit speziellen Handprothesen. Ich denke da gerade an eine Unterarmprothese für einen sportlichen Kunden mit verriegelbarem Griff für das Hanteltraining im Fitnessstudio.

 

Wir freuen uns immer wieder über diese ausgefallenen Projekte!

 

Björn: Sind Sportprothesen eigentlich immer Sonderanfertigungen? Oder kann auch hier - ähnlich wie bei der Alltagsprothese - teils auf Passteile von der Stange zurückgegriffen werden, die dann mit anderen handgefertigten Komponenten - wie zum Beispiel dem Schaft - kombiniert werden? Wie müssen wir uns das vorstellen?

 

Tim: Prothesen sind immer Sonderanfertigungen und sind so einzigartig wie die Person, die sie trägt. Mittlerweile bieten Hersteller viele verschiedene Passteile wie Federn oder spezielle Prothesenhände an, die mit einem Schaft kombiniert werden können.

 

Die Schaftgestaltung selbst fällt oftmals anders aus als wir das von einer Alltagsversorgung her kennen. Das liegt natürlich unter anderem an der unterschiedlichen Zielsetzung und angedachten Nutzung.

 

 

Sportprothesen Sind Leider Bei Den Kassen Noch Lange Nicht Standard

Björn: Leider werden für die meisten von uns Sportprothesen ja nicht von den jeweiligen Kassen übernommen. Die Entscheidung für eine solche Prothese ist daher für viele Amputierte ein Schritt, der wohl überlegt sein will. Auf was sollten Leute achten, die mit dem Gedanken spielen, sich auf eigene Kosten eine Sportprothese zu leisten? Welche Aspekte müssen sie beachten? Was ist besonders wichtig zu wissen?

 

Tim: Unserer Überzeugung nach sollte jede amputierte Person die Möglichkeit haben, wie jeder andere Mensch auch Sport ohne Einschränkungen treiben zu können.

 

Steht eine amputierte Person nun vor der Entscheidung für diese Investition, sollte man klären, ob man die gesundheitlichen und körperlichen Voraussetzungen hat, eine Sportprothese zu nutzen.

 

Glücklicherweise braucht man nicht für jede Sportart, die man betreiben kann, eine Sportprothese. Fitnesstraining, Fahrradfahren, Wandern, Tischtennis oder auch Speerwurf und Kugelstoßen und auch vieles anderes mehr, kann man mit seiner gewohnten Alltagsversorgung betreiben.

 

Eine gute Grundvoraussetzung ist, wenn man schon vor der Amputation Sport getrieben hat.

 

Björn: Kann so etwas vorab getestet werden? Oder muss eine Person erst die Entscheidung für eine Sportprothese treffen, diese anfertigen lassen, und kann erst dann schauen, ob das überhaupt was für ihn oder sie ist?

 

Tim: Niemand kauft gerne die Katze im Sack. Es gehört zu unserer Philosophie, Menschen die sich eine Sportprothese anschaffen möchten, die Möglichkeit vorab zu bieten, diese auch testen zu können.

 

 

Gleichgesinnte Finden, Gemeinsam Aktiv Sein

Björn: Nun ist die Prothetik ja nur ein Aspekt auf dem Weg, sportlich wieder aktiv zu sein. Wenn ich nun eine Sportprothese habe, kann ich mir die Nutzung alleine beibringen? Oder gibt es - ähnlich der Gehschulen - auch spezielle Kurse/Angebote, um die Nutzung einer ‚Running Blade' oder einer besonderen Hand oder dergleichen zu lernen?

 

Tim: Die meisten Menschen, die das erste Mal auf einer Sportprothese stehen, lernen nach sehr kurzer Zeit, diese intuitiv zu nutzen. Das ist erst einmal die gute Nachricht. Aber es kann auch vieles falsch gemacht werden, was dann eventuell zu Fehlbelastungen und vorschnellem Verschleiss führen kann.

 

Neben dem Orthopädietechniker oder der Orthopädietechnikerin des Vertrauens kann man sich Physiotherapeut*innen, Trainer*innen oder auch Athlet*innen mit Handicap ins Boot holen, um den Umgang richtig zu erlernen.

 

Zudem bieten verschiedene Vereine oder Organisationen vereinzelt Laufevents an, beispielsweise „Anpfiff ins Leben“ in Hoffenheim. In diesem Zusammenhang ist in Deutschland allerdings besonders ein Verein hervorzuheben: Der TSV Bayer Leverkusen mit seiner einzigartigen Behindertensportabteilung, in der Leichtathletik, Sitzvolleyball und Schwimmen angeboten wird.

 

Hier finden Anfänger*innen wie auch Leistungssportler*innen die nötige Unterstützung. Neben Topkaderathlet*innen trainiert auch eine Breitensportgruppe mit dem Namen: "Fit mit ohne Prothese" regelmäßig auf dem Gelände des TSV Bayer Leverkusen.

 

 

Die Richtigen Techniker*innen Finden

Björn: Aus persönlicher Erfahrung und aus den Gesprächen mit anderen Amputierten weiß ich um die Schwierigkeiten, schon für die Alltagsprothese eine*n erfahrene*n Techniker*in zu finden. Wie sieht es den mit den zusätzlichen Erfahrungen und dem zusätzlichen Können aus, welches der/die Techniker*in mitbringen sollte, wenn es um Sportprothesen geht?

 

Tim: Grundsätzlich gelten die gleichen physikalischen Regeln wie bei einer Alltagsprothese. Das Finetuning macht aber dann doch den Unterschied. So ist die Statik anders als bei einer Alltagsversorgung. Natürlich wird auch bei einer Sportprothese alles auf den jeweiligen Kunden oder die jeweilige Kundin abgestimmt, denn es gibt keine ideale Lösung, die auf jede*n zutrifft.

 

Jede Person kommt mit unterschiedlichen Voraussetzungen, Zielen und Bedürfnissen zu uns. Natürlich hilft uns unser Erfahrungswert der unzähligen Sportprothesen, die wir schon gebaut haben. Aber das ist nur die Basis, auf der wir aufbauen. Dadurch können wir die Wünsche der Kund*innen ganz bedarfsorientiert umsetzen. 

 

Björn: Ihr seid in diesem Bereich sehr Erfahren, habt in den letzten Jahren zahlreiche Sportler*innen mit Sportprothesen versorgt und arbeitet ja auch eng mit der Behindertensport-Sektion von Bayer Leverkusen zusammen. Und zwar sowohl im Bereich des Leistungssports als auch im Breitensport. Und auch diese Woche steht ihr mit eurem Wissen bei den "Talent Days" wieder auf der Matte und werdet es zahlreichen Amputierten ermöglichen, erstmal wieder zu laufen. Was waren da in den letzten Jahren die Momente, auf die ihr am meisten Stolz wart/die euch am meisten Freude bereitet haben.

 

Tim: Sicherlich sorgen die „Heimspiel“ oder „TalentDays“ Veranstaltung des TSV Bayer Leverkusen für grosse Momente. Am meisten aber bleiben uns die zahlreichen Freudentränen der Anwender*innen in Erinnerung hängen, die das erste Mal wieder laufen. Und ganz ehrlich: Wir sind schon auch ein bisschen Stolz, hierzu unseren kleinen Beitrag beisteuern zu dürfen.

 

 

Sport Als Teil Einer Ganzheitlichen Rehabilitation Und Gesellschaftlicher Teilhabe

Björn: Wenn wir an Sport - und damit auch an Sportprothesen denken - dann liegt der Fokus ja erst einmal auf der körperlichen Aktivität. Ich habe aber stets den Eindruck, dass die Diskussion hier recht eingeengt geführt wird. Denn durch die Möglichkeit, wieder Sport zu treiben, öffnen sich für Menschen mit Behinderungen neue Türen in Sachen gesellschaftliche Teilhabe. Die Leute werden selbstsicherer, entwicklen ein viel positiveres Selbstbild mit der entsprechenden Sicherheit und einem gesunden Selbstbewusstsein. Ist das etwas, was sich in eurem Alltag widerspiegelt? Und falls ja, habt ihr da konkrete Beispiele?

 

Tim: Ein wichtiger Punkt. Grundsätzlich denke ich, sollte für Amputierte Sport kein Luxus mehr sein. Es stimmt uns sehr traurig, das nicht jede*r, der oder die eine Sportversorgung anstrebt, diese auch bekommt. Leider gehört dies nicht immer zum gängigen Leistungsumfang der Krankenkassen.

 

Wir sehen an vielen Beispielen in unserem täglichen Arbeit, was eine Sportprothese mit Menschen macht. Unsere Anwender*innen blühen körperlich und mental auf. Sie werden zudem gesellschaftlich positiver wahrgenommen. So zum Beispiel unsere kleinen Kund*innen, die oftmals komplett auf ihre Alltagsversorgung verzichten und auch im Ansehen ihrer Mitschüler*innen steigen, weil sie so eine besondere Prothese haben. Oder unser Triathlet Thomas, der sich den Traum vom Triathlon durch Selbstfinanzierung wieder erfüllt hat.

 

 

Wo Wird Die Reise Hingehen?

Björn: Und last but not least: In den letzen Jahren hat sich in der Prothetik viel getan. Wie sieht es da im Bereich der Sportprothesen aus? Was sind spannende/viel versprechende Entwicklungen? Wo sehr ihr ermunternde Forschung und neue Trends?

 

Tim: Im Sportbereich ist es immer etwas schwieriger, da die Nachfrage - und somit auch das Budget der produzierenden Industrie - hier sehr viel geringer ist als zum Beispiel bei mikroprozessor-gesteuerten Kniegelenken für den Alltag.

 

Aber nichstdestotrotz: Die Dynamik, das Material, der Aufbau etc. erfahren hier immer wieder spannende Entwicklungen, um Athlet*innen im Para-Hochleistungs-Sport optimal zu unterstützen. Davon profitieren dann letztendlich auch alle im Para-Freizeit-Sport.

 

Auch in der Mietmöglichkeit sind viele Ideen vorhanden, wenn auch noch nicht voll umgesetzt. Wir hoffen aber, dass es nicht bei den Ideen alleine bleibt, um möglichst vielen Menschen auch nach einer Amputation wieder die Möglichkeit zu bieten, Sport mit Prothese zu betreiben.

 

Björn: Wenn Leute sich gerne an euch wenden wollen - entweder mit weiteren Fragen oder falls sie sich bereits für den Erwerb einer Sportprothese entschieden haben und diese gerne bei euch bauen lassen wollen - wo finden sie euch?

 

Tim: Wer Interesse hat, der wendet sich einfach an LENTES PROTHESENWERKSTATT. Entweder in Köln oder Leverkusen. Wir würden uns freuen, von allen zu hören, denen dieser Artikel jetzt Lust auf eine Sportprothese gemacht hat!

 

Björn: Super. Dank dir für das Gespräch.

 

 

Beitrag von Bjoern Eser, dem Gründer von und Macher hinter The Active Amputee. Wer mehr sich mit den Teams von LENTES PROTHESENWERKSTATT in Verbindung setzen möchte, der findet die Kontaktdaten hier. Mehr Informationen finden sich zudem noch auf der Partnerseite direkt hier auf The Active Amputee.

 

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